Kurzgeschichten aus einer anderen Welt

— vom Leben auf der Eisdornenburg. —

Sidur wurde an der Schulter gepackt und unsanft wachgerüttelt. Eine Männerstimme rief: ,,Los! Aufstehen!” Er machte kurz die Augen auf. Noch war es dunkel im großen Schlafsaal. Und kalt. Und die Luft war getränkt mit nächtlichen Körpergerüchen. Es gab auch nur wenige schmale Fenster im Raum. Der Mann, der durch die Reihen ging und jeden mit einem Schubser und ,,Los! Aufstehen!” weckte, hatte eine Fackel dabei, die ein wenig Licht spendete. Doch im Moment war sie zu hell. Sidur drehte den Kopf zur Wand, sodass er nicht so sehr geblendet wurde. Am liebsten würde er sich umdrehen, die Augen wieder schließen und schlafen, doch er wusste, dass das nicht zählte. Es half nichts, er musste aufstehen.

Nach kurzer Zeit waren alle wach und hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt.  Der Fackelträger war weiter in den hinteren Teil des Saals verschwunden. Das unstete Licht der Fackel war nur noch hin und wieder zu sehen. Die ersten hatten bereits die warme Arbeitskleidung angezogen. Zusammen standen sie an einem kleinen Tisch und schlürften hastig heißes Wasser aus ihren hölzernen Schalen. Ein etwas karges Morgenmahl, dafür wärmte es, denn draußen war es bitter kalt. Wie immer eigentlich, dachte Sidur, und es würde nur wenig wärmer werden über den Tag.

Trotz der vielen Menschen im Saal war es erstaunlich leise. Zwar waren bis jetzt noch nicht alle wach und nur zwei Dutzend standen schon vorne beim Heißwasser, dennoch war nur das Schlürfen zu hören. Und gelegentlich ein morgendliches Husten. Jeder schien so seinen Träumen nachzuhängen. Die meisten blickten abwesend und waren offensichtlich noch gedanklich im warmen Bett. Sidur bemerkte, wie er selbst versuchte seinem letzten Traum einzufangen. Es war ein schöner Traum, er hatte auf einer grünen Wiese gesessen und die Sonne hatte sein Gesicht gewärmt. Stundenlang, so träumte er, lag er dort beobachtete tanzende Kaninchen und hörte Vögel singen, ganz wunderbare Melodien. Plötzlich war ein fliegendes Einhorn aufgetaucht und hatte mit ihm gesprochen. Es hatte etwas von einem roten Stein erzählt, der verloren gegangen war und sehr wichtig sei. Sidur musste grinsen. Welch ein sonderbarer Traum. Er hatte wohl gestern Abend zu lange noch dem alten Bruun zugehört und die Gestalten seiner Geschichten in seine Träume gelassen.

Der alte Bruun war viel herumgekommen, ein Wandersmann war er gewesen. Er mochte viel erlebt und gesehen haben von dieser Welt, aber fliegende Einhörner gab es nicht. Erst recht nicht , solche, die sprechen konnten.

Sidur nahm noch einen letzten großen Schluck vom Heißwasser, da hörte er die Schritte des Fackelträgers bereits wieder. Er kam, fuchtelte ungeduldig mit seiner Fackel und forderte alle auf, nun endlich loszulegen. Sidur schnappte sich also mit leisem Murren seine Ohrenwärmer und seine Schaufel und folgte den anderen den Gang entlang, die kurze, enge, gewundene Treppe hinunter und aus der Tür in den kalten morgendlichen Hof. Der Himmel zeigte noch die letzten hellen Sterne, keine Wolke verdeckte die Sicht. Sofort kroch ihm die Kälte unter seine Klamotten und er fror. Dennoch, nun begann seine Arbeit: Schneeschaufeln.

Er war bei den Schauflern seit sieben Jahren, seit er vierzehn geworden war. Seither war es immer der gleiche Rhythmus. Morgens, sobald die Wächter im Hohen Turm den ersten Sonnenstrahl hinter den Bergen im Osten sahen, wurden Sidur und die anderen von den Fackelträgern geweckt. Dann mussten die Schaufler raus und die Wege der Eisdornenburg, der größten befestigten Anlage in der nördlichen Schneewüste, vom Schnee befreien bevor die anderen Bewohner erwachten und ihre Arbeit begannen. Zeit genug hatten sie meistens, denn es dauerte eine ganze Weile bis die Sonne über die Berge kletterte und in der Eisdornenburg die Dächer zum Glitzern brachte. Selbst dann hatten die Schaufler noch Zeit, bis die ersten sich aus den warmen Häusern begaben. Erst wenn alle Wege der Stadt geräumt waren, durften die Schaufler ruhen und hatten frei bis am Nachmittag. Dann ertönte vom Hohen Turm ein helles Horn. Das war das Signal, dass die Wächter die Sonne am westlichen Horizont in den Boden sinken sahen. Nun begann für die Schaufler erneut die Arbeit. Ihre Aufgabe war es dann, die Wege zu kontrollieren und den Schnee, der tagsüber gefallen war, wieder beiseite zu schaufeln, damit er über Nacht nicht festfror.

Vier Tage am Stück musste Sidur arbeiten, dann hatte er zwei Tage Pause. Diejenigen, die am nächsten Tag arbeiten mussten, fanden sich zum Schlafen am Abend vorher in den Schlafsälen im unteren Teil des Hohen Turms ein. Dieser stand im Zentrum der Stadt, direkt am Großen Platz gelegen und angrenzend an das Königshaus, in dem zurzeit König Amdaruss II regierte.

An diesem Morgen war Sidur im westlichen Teil der Burg eingeplant, genau wie sein Bruder, Bautass. Bautass war drei Jahre älter als Sidur. Mehr Geschwister hatten sie nicht, obwohl sie sich immer noch eine Schwester gewünscht hatten. Auch ihre Eltern freuten sich auf weitere Kinder, aber Ebru wurde nicht mehr schwanger.

Während die beiden Brüder den Schnee in Haufen auf die Seiten der Wege hoben, wurde ihnen wärmer und sie fingen an zu plaudern und zu erzählen. Oft machten die beiden einen Wettbewerb, welcher von beiden eine bestimmte Strecke zuerst freigeschaufelt hatte. Auch Rosshor machte manchmal mit. Rosshor war Sidurs bester Freund, aber er stammte aus einer Familie, die schon seit Generationen Botendienste im Auftrag des Königs unternahm. Deshalb war er oft nicht da, aber wenn er in der Stadt war, dann unterstützte er die beiden Brüder beim Schaufeln. Zusammen hatten sie immer viel Spaß, doch vor zwei Tagen war Rosshor aufgebrochen, um eine Einladung an einen Statthalter im Westen der Schneewüste zu überbringen. So waren sie heute nur zu zweit unterwegs und arbeiteten ihre Straßen ab.

,,Sieh mal dort hinten”, sagte Sidur und zeigte in eine Seitenstraße, ,,da arbeitet Roswintea!” Als er ihren Namen aussprach, lächelte er frech und zwinkerte seinem Bruder zu. Er wusste, dass Bautass seit Monaten in Roswintea verliebt war, sich aber nicht traute zu ihr zu gehen und sie anzusprechen.

Natürlich würde Sidur sich auch nicht trauen, aber das würde er niemals verraten. Das wäre ihm peinlich.

Roswintea war auch bei den Schauflern. Viele Frauen waren dort, jedoch nicht so viele, wie Männer. Denn es war schwerste körperliche Arbeit und sehr anstrengend, wenn auch die meisten Frauen der Nordmenschen harte Arbeit gewöhnt waren. Sidur konnte seinen Bruder verstehen, Roswintea war eine Schönheit. Sie hatte dunkelbraunes schulterlanges Haar, das sie meist seitlich zusammengebunden hatte. Kleine Lachfältchen und strahlende olivgrüne Augen verrieten, dass sie gerne und viel lachte und ein fröhliches Wesen war. Sie war nicht besonders groß, hatte dafür aber eine Figur, die ihre weiblichen Formen betonte und Bautass und Sidur ständig ins Träumen versetzte.

Sidur schüttelte den Kopf und merkte, wie sein Bruder und er auf die Schaufeln gestützt zu Roswintea hinüberstarrten. In dem Moment sah auch Roswintea auf und blickte in ihre Richtung. Sidur kam es vor, als ob sie nur Bautass ansah und ihm einen verliebten Blick zuwarf. Aber nur kurz, denn verlegen senkte sie den Kopf wieder und machte sich an die Arbeit. Bautass entfuhr ein Seufzer. ,,Sie ist wunderbar. Hast du gesehen?”

,,Oh ja! Sie hat nur Augen für dich gehabt.” Sidur fing an zu lachen. Dabei nahm er eine große Ladung Schnee auf die Schaufel und hob sie beiseite. ,,Ich glaube, sie hat bemerkt, wie du sie angesehen hast.”

,,Du hast doch auch gestarrt, dass dir die Augen aus dem Kopf fielen!”

,,Aber nicht so verliebt, wie du!”

,,Was ich hoffen will, Kleiner!” Dabei boxte Bautass seinem Bruder freundschaftlich in die Rippen, zwinkerte ihm zu und streckte ihm dann drohend die Faust entgegen. ,,Jetzt sollten wir wieder arbeiten, sonst haben wir nichts von unserer Pause und wir wollten doch noch für Mama auf dem Markt einkaufen.”

,,Nun gut. Wer zuerst bis vorne zur Ecke freigeschaufelt hat, der hat gewonnen. Und los!”

Mit diesen Worten begannen sie nach Leibeskräften zu schaufeln und waren kurz darauf schon am Schwitzen.

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